Jahrzehntelang war Fett der Feind. Heute gibt es einen neuen Sündenbock: Kohlenhydrate. Die Verunglimpfung von Kohlenhydraten und Insulin scheint von Jahr zu Jahr populärer zu werden.
Ich gebe zu: Auch ich habe vermutlich meinen Teil dazu beigetragen, dass Kohlenhydrate einen schlechteren Ruf haben, als notwendig. Zum Beispiel in meinem Ratgeber Kopf schlägt Bauch – auch wenn es mir dort ein Anliegen war, immer wieder zu betonen, dass Kohlenhydrate nicht an sich schlecht sind und dass ich die generelle Unterteilung in „gut“ und „schlecht“ eher vermeiden will.
Denn Kohlenhydrate sind nicht gleich Kohlenhydrate. Und selbst die sogenannten „schlechten“ Kohlenhydrate, also die aus nährstoffarmen Lebensmitteln wie z.B. Kartoffelchips oder Gummibärchen, richten weder sofort irreparablen gesundheitlichen Schaden an, noch führen sie zu unmittelbarem Übergewicht.
Aber es ist eigentlich vorherzusehen, dass hier nur zu gerne ein Feindbild projiziert wird, das es so nicht geben sollte. Leider ist das Einschlagen auf einen bestimmten Bestandteil wie z.B. Fett (wie vor vor mehreren Jahrzehnten) und wie jetzt bei Kohlenhydraten eine willkommene Chance, einen gemeinsamen Feind zu schaffen. Ob dieser dann dieses Sündenbock-Image so verdient hat oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Meistens ist es aber auch hier so, wie sooft im Leben:
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte…
Viele Menschen meinen, dass der populäre glykämische Index und der weniger bekannte Insulinindex Lebensmittel danach sortieren, wie „ungesund“ sie sind. Doch die verfügbaren Forschungsergebnisse zeigen, dass Ernährungsformen mit niedrigem glykämischen Index im Vergleich zu Ernährungsformen mit höherem glykämischen Index selbst bei Diabetikern entweder keine oder nur bescheidene positive Auswirkungen auf die Faktoren des metabolischen Syndroms haben. (siehe die Quellenangaben 1-10 am Ende des Beitrages für entsprechende Studien). Außerdem führt eine Ernährung mit niedrigem glykämischen Index nicht immer zu einer besseren Kontrolle des Blutzuckerspiegels als andere Ernährungsarten. (11)
Auch das sogenannte Kohlenhydrat-Insulin-Modell für Übergewicht ist nicht gut belegt (12, 13). Dieses Modell geht davon aus, dass Übergewicht durch Kohlenhydrate und die von ihnen hervorgerufene Insulinreaktion verursacht wird (14).
Im Jahr 2017 wurde eine Meta-Analyse von 32 kontrollierten Ernährungsstudien durchgeführt (15). Einige dieser Studien waren Studien unter Aufsicht im „Labor“, während einige andere Studien außerhalb des Labors stattfanden. Aber in beiden Variationen wurden die Mahlzeiten von den Forschern zur Verfügung gestellt, die sicherstellen wollten, dass jede Ernährungsform ganz bestimmte Mengen an Kalorien und Nährstoffen liefert. Innerhalb jeder Studie wiesen die unterschiedlichen Ernährungsformen den gleichen Gehalt an Kalorien und Protein auf, aber einen unterschiedlichen Gehalt an Fett und Kohlenhydraten.
Was waren also die Ergebnisse?
Fettarme Ernährungsformen führten zu einem größeren Fettverlust (durchschnittlich 16 Gramm pro Tag) und einem höheren Energieverbrauch (durchschnittlich 26 Kalorien pro Tag). Dies würde fettarmen Diäten einen Vorteil beim Fettabbau verschaffen, wenn auch „so klein, dass sie physiologisch unbedeutend sind“ (16).
Diese Ergebnisse stimmen mit den Ergebnissen von langfristigen, außerhalb dem Labor stattfindenden, randomisierten, kontrollierten Studien überein, die die Wirksamkeit einer Ernährung in der Praxis testen sollen (was bedeutet, dass die Teilnehmer Anweisungen erhalten haben, aber ihre Mahlzeiten selbst zubereiten müssen). Meta-Analysen zeigen, dass Keto-, kohlenhydratarme und kohlenhydratreichere Ernährungsformen zu einer ähnlichen Gewichtsabnahme führen (17, 18).
Weniger Kohlenhydrate zu essen (insbesondere verarbeitete Kohlenhydrate) kann hilfreich sein – wenn es uns hilft, uns gesünder zu ernähren. Wenn wir uns jedoch durch das Verdammen von Kohlenhydraten schlechter ernähren oder uns schlechter fühlen, oder wenn wir uns nicht an die Ernährung halten können, sollten wir andere Optionen in Betracht ziehen. Wenn das Ziel Abnehmen lautet, kommt es nicht darauf an, Fett durch Kohlenhydrate oder Kohlenhydrate durch Fett zu ersetzen, sondern darauf, die meisten Tage mit einem Kaloriendefizit zu beenden.
Solange wir nicht zu viel davon essen, haben Kohlenhydrate nichts Schädliches an sich – umso mehr, wenn es sich um Kohlenhydrate handelt, die aus vollwertigen, wenig verarbeiteten Lebensmitteln stammen.
Wer jetzt auf eine konkrete Antwort wartet, wie viele Kohlenhydrate denn dann „gut“ sind, der wird leider die typische, zweiteilige Antwort erhalten:
- „Das kann man so pauschal nicht sagen.“
- „Das hängt von der Situation eines jeden Einzelnen ab.“
Und dem ist nun mal auch so. Es handelt sich hier also nicht in erster Linie um Ausflüchte der Person, der die Frage gestellt wurde.
- Zum einen besteht ein signifikanter Unterschied, ob jemand den ganzen Tag im Sitzen verbringt und sich kaum bewegt, oder ob jemand körperlich sehr aktiv ist (in der Arbeit, wegen Sport, oder selbst im Haushalt,…).
- Zum anderen weisen selbst Personen mit einem sehr ähnlichen Aktivitätsprofil unterschiedliche Bedürfnisse auf.
Am Ende des Tages heißt das meinem Erachten nach:
- Wir sollten aus der Ernährung keine Wissenschaft machen (außer wir sind Wissenschaftler). Dadurch setzen wir uns einem ziemlich unnötigen Druck aus, wenn es darum geht, uns vernünftig zu ernähren. Die aus diesem Druck entstehenden negativen Nebenwirkungen sind vermutlich schädlicher als eventuelle Nachteile, wenn wir uns „P mal Daumen“ und basierend auf unserem Gutdünken ernähren. So ziemlich jeder von uns weiß heutzutage mehr als genug, wie eine nachhaltige, gesunde Ernährung auszusehen hat. Daran scheitert es also eher nicht.
- Die „ideale Ernährung“ gibt es sicherlich. Sie ist aber für jede Person individuell. Hier kommt es darauf an, zu experimentieren. Das kostet aber Zeit, Nerven, usw. Für die Meisten unter uns dürft diese „ideale Ernährung“ aber gar nicht notwendig sein. Denn selbst, wenn wir sie finden würden, ist es nicht gesagt, dass diese Ernährung auch in sechs oder 12 Monaten noch die ideale Ernährung für uns ist. Bedürfnisse ändern sich, je nach Alter, Aktivitätsprofil, Gesundheitszustand, usw. Hier gilt die Devise: Gut ist gut genug. Was ist „gut“? Dein Körper wird es Dich wissen lassen. Anstatt unsere Zeit mit Kohlenhydrate Tabellen oder Nährwert Tabellen zu verschwenden, sollten wir wieder lernen, mehr auf unseren Körper zu hören.
- Kein „Ernährungsguru“ weiß alles. Verlasse Dich auf Dich selber und auf das, was Du für Dich als sinnvoll empfindest.
- Gib Dir Zeit.
Quellenangaben:
(1) Fleming P, Godwin M. Low-glycaemic index diets in the management of blood lipids: a systematic review and meta-analysis. Fam Pract. (2013)
(2) Schwingshackl L, Hobl LP, Hoffmann G. Effects of low glycaemic index/low glycaemic load vs. high glycaemic index/ high glycaemic load diets on overweight/obesity and associated risk factors in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. Nutr J. (2015)
(3) Zhang R, et al. Effects of low-glycemic-index diets in pregnancy on maternal and newborn outcomes in pregnant women: a meta-analysis of randomized controlled trials. Eur J Nutr. (2018)
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(5) Clar C, et al. Low glycaemic index diets for the prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev. (2017)
(6) Gardner CD, et al. Effect of Low-Fat vs Low-Carbohydrate Diet on 12-Month Weight Loss in Overweight Adults and the Association With Genotype Pattern or Insulin Secretion: The DIETFITS Randomized Clinical Trial. JAMA. (2018)
(7) Milajerdi A, et al. The effect of dietary glycemic index and glycemic load on inflammatory biomarkers: a systematic review and meta-analysis of randomized clinical trials. Am J Clin Nutr. (2018)
(8) Wang Q, et al. Effects comparison between low glycemic index diets and high glycemic index diets on HbA1c and fructosamine for patients with diabetes: A systematic review and meta-analysis. Prim Care Diabetes. (2015)
(9) Han S, et al. Different types of dietary advice for women with gestational diabetes mellitus. Cochrane Database Syst Rev. (2017)
(10) Ojo O, et al. The Effect of Dietary Glycaemic Index on Glycaemia in Patients with Type 2 Diabetes: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Nutrients. (2018)
(11) Schwingshackl L, et al. A network meta-analysis on the comparative efficacy of different dietary approaches on glycaemic control in patients with type 2 diabetes mellitus. Eur J Epidemiol. (2018)
(12) Hall KD, Guyenet SJ, Leibel RL. The Carbohydrate-Insulin Model of Obesity Is Difficult to Reconcile With Current Evidence. JAMA Intern Med. (2018)
(13) Hall KD. A review of the carbohydrate-insulin model of obesity. Eur J Clin Nutr. (2017)
(14) Ludwig DS, Ebbeling CB. The Carbohydrate-Insulin Model of Obesity: Beyond „Calories In, Calories Out“. JAMA Intern Med. (2018)
(15) Hall KD, Guo J. Obesity Energetics: Body Weight Regulation and the Effects of Diet Composition. Gastroenterology. (2017)
(16) Hall KD, Guo J. Obesity Energetics: Body Weight Regulation and the Effects of Diet Composition. Gastroenterology. (2017)
(17) Johnston BC, et al. Comparison of weight loss among named diet programs in overweight and obese adults: a meta-analysis. JAMA. (2014)
(18) Bueno NB, et al. Very-low-carbohydrate ketogenic diet v. low-fat diet for long-term weight loss: a meta-analysis of randomised controlled trials. Br J Nutr. (2013)
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